Unzulässigkeit des Vertrags- und Rabattsystems des Leergutautomaten-Herstellers Tomra in letzter Instanz festgestellt

10. Juni 2012 - Kartellrecht

Rückwirkende Treuerabatte für Kunden marktbeherrschender Anbieter im Zweifel unzulässig

Im Jahr 2006 hat die EU-Kommission eine hohes Bußgeld gegen den Tomra- Konzern wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung verhängt (Artikel 102 AEUV). Es ging um Leergutautomaten, die im Einzelhandel (unter anderem in Deutschland) eingerichtet werden. Tomra ist ein norwegisches Unternehmen und versorgt den – auch deutschen – Einzelhandel mit Leergutautomaten.
Die Kommission legte Tomra zur Last, man habe mit dem Handel (als solche nicht unmittelbar gekennzeichnete) Exklusiv-Vereinbarungen, enthaltend Abnahmeverpflichtungen und Rabattpläne in Form von Treuerabatten vereinbart und damit missbräuchlich den Marktzutritt erschwert. Man habe rückwirkende Rabatte in einer Höhe versprochen, die geneignet seien Kunden dazu zu bewegen, sich deswegen regelmäßig ganz oder überwiegend bei Tomra einzudecken. Der deutsche Konkurrent Prokent hatte durch eine Beschwerde das Verfahren ausgelöst. Das Verfahren COMP/E-1/38.113 – Prokent-Tomra allein der Kommission dauerte fünf Jahre. Nachdem gegen Tomra ein Bußgeld in zweistelliger Millionenhöhe verhängt worden war, wurde diese Entscheidung eingangs durch das EuG bestätigt. Das EuG hatte mit Urteil vom 09.09.2010 – T-155/06 – die gegen die Kommissionsentscheidung gerichtete Klage von Tomra vollständig zurückgewiesen (GRUR-Prax 2010, 450). Der EuGH hat nunmehr das Rechtsmittel Tomras hiergegen durch Urteil am 19.04.2012 zurückgewiesen (Rs C?549/10 P).

Man sagt Treuerabatten, also “loyalty discounts”, “fidelity rebates”, “first-dollar rebates” wettbewerbsschädliche Wirkungen ob deren so genannter Sogwirkung nach. Vergleichbar wird man spezifische Formen von Umsatzrabatt sehen müssen. Konkurrenten des Rabattgebers wird es durch derartige Rabattsysteme erschwert, zu konkurrieren. In wieweit man dies verallgemeinern kann, ist umstritten. Die Rechtsprechung hierzu war daher hierzu auch in Einzelheiten uneinheitlich, sodass für manche Kollegen des Verfassers aus sehr guten Gründen nur dasjenige marktbeherrschende Unternehmen als vor Inanspruchnahme sicher galt, welches auf derartige Rabatte verzichtet. Die Tomra-Entscheidung war mit Spannung erwartet worden. Von ihr versprach man sich weitgehende Klärung der Rechtslage. Diese ist nur zum Teil eingetreten.
Dem Tomra-Bußgeld durch die Kommission folgte anschließend deren Erläuterungen zu den Prioritäten bei der Verfolgung von Behinderungsmissbrauch. Die EuG-Tomra-Entscheidung erging dann wiederum danach. Die Erläuterungen der Kommission wurden zeitweilig und gelegentlich als Abkehr von dem traditionellen “form based”-Ansatz bei Anwendung von Artikel 102 AEUV und als Hinwendung zu einer auswirkungsbasierten Betrachtung gedeutet. Tomra hatte sich diesbezüglich darauf berufen, dass es nicht darauf ankommen könne, welche Vertragsgestaltungen man gewählt habe, sondern darauf, ob ein ebenso effizienter Wettbewerber trotz der Rabatte wirksam gegen Tomra konkurrieren könne, also auf die jeweilige Auswirkung des beleuchteten Marktverhaltens auf den Markt. Entscheidungserheblich war weiter die Frage, ob ein rückwirkendes Rabattsystem unzulässig sei, solange der Wettbewerber diese gewährende Marktteilnehmer relevante Gewinne generiere.
Das EuG meinte, bei retroaktiven Rabatten sei für den jeweiligen Kunden der jeweilige Durchschnittspreis des Konkurrenten in den Hintergrund gedrängt. Anscheinend war es bereits für die Entscheidung des EuG also nicht von Belang, ob der Nettopreis von Konkurrenten, bezogen auf deren sog. “contestable share” des Gesamtsystems, über oder unter den Kosten des Anbieters liegt. Irrelevant war auch die Frage, ob das marktbeherrschende Unternehmen trotz der Rabattgewährung Gewinne erzielt, weil der Verdrängungsmechanismus, den die rückwirkenden Rabatte darstellten, nicht voraussetze, dass das marktbeherrschende Unternehmen auf Gewinne verzichte. Kosten von Rabatte bezögen sich auf eine große Anzahl von Verkaufseinheiten. Wenn rückwirkende Rabatte gewährt würden, könne der Durchschnittspreis, über den Kosten liegen und eine im Durchschnitt hohe Gewinnspanne zeitigen. Die rückwirkenden Rabattpläne haben für den Kunden jedoch zur Folge, dass der effektive Preis der letzten Geräteeinheiten aufgrund des Sogeffekts sehr niedrig ist.
Die Abschottung eines erheblichen Teils des Marktes, so das EuG weiter, könne durch ein beherrschendes Unternehmen nicht mit dem Nachweis gerechtfertigt werden, der noch erreichbare Markt biete Platz für mehrere weitere Anbieter. Das wird man dahingehend deuten können, dass ein Missbrauch auch in Fällen angenommen werden kann, in denen nur ein einziger Kunde gebunden wird. Im abgeschotteten Marktbereich sollen Kunden nämlich im Grundsatz in größtmöglichem Maße vom Wettbewerb profitieren können und die Wettbewerber sollten auf dem gesamten Markt konkurrieren. Überdies darf wohl auch das beherrschende Unternehmen nicht bestimmen dürfen, wer noch in welchen Markt – Teilbereichen konkurrieren kann. Mit dieser Begründung wurde die Tomra-Sanktion aufrecht gehalten.
Der EuGH bestätigt nunmehr die Entscheidung des EuG in letzter Instanz, schafft zu Einzelheiten rechtlich Klarheit, zu anderen leider noch nicht.
Der EuGH stellt darauf ab, der Tomra- Konzern habe durch das Abschotten eines erheblichen Teils des Marktes den Marktzugang eines oder mehrerer Wettbewerber und damit die Intensität des Wettbewerbs auf dem gesamten Markt beschränkt (vgl. Rdnr. 41). Überdies sollten aus Sicht des EuGH die im abgeschotteten Teil des Marktes befindlichen Kunden von jedem auf dem Markt möglichen Grad an Wettbewerb profitieren können und die Wettbewerber sollten auf dem gesamten Markt und nicht nur auf einem Teil davon in Leistungswettbewerb treten können (vgl. Rdnr. 42). Auch eine Kosten- und Preis-Analyse sei nicht erforderlich (vgl. Rdnr. 78 f.), ausreichend vielmehr, dass der Beherrschende durch den Treuerabatt als Kundenbindungsmechanismus in der Lage sei, seine Mitbewerber zu verdrängen und damit Teile der Nachfrage für sich zu vereinnahmen (Rdnr. 79). Bei einem solchen System sei daher die Betrachtung der konkreten Auswirkungen der Rabatte auf den Wettbewerb nicht geboten, also auch keine konkreten Auswirkungen selbst. Für die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV genüge, dass der Treuerabatt eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung haben kann.
Der EuGH stellt klar, dass es bei der Beurteilung nach Art. 102 AEUV auf eine wettbewerbswidrige Absicht nicht ankommt. Die Regelung der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung stelle einen objektiven Rechtsbegriff dar. Folglich müsse die Kommission Absicht nicht feststellen bzw. nachweisen.
Zur Frage, welcher Grad von Marktabschottung Voraussetzung für die Annahme von Missbrauch sei, beschied der EuGH dahingehend, dass jede fixe Definition einer Grenze künstlich sei. Die Auffassung Tomras, der durch das Rabattsystem nicht abgeschottete Marktteil reiche noch für ausreichenden Wettbewerb, um Missbrauch zu meiden, gehe fehl. Es sei nicht Sache des beherrschenden Unternehmens zu entscheiden, wie viele Wettbewerber auf welchem Teilmarkt konkurrieren können.
Der EuGH stellte weiter klar, einen Kosten-Preis-Vergleich zur Bewertung der Rabatte brauche es nicht. Auch eine Analyse der konkreten Auswirkungen der Rabatte sei nicht geboten. Es genüge bereits der Nachweis, dass das Marktverhalten des Beherrschenden eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung haben könne. Das höchste europäische Gericht postuliert damit eindeutig ein per se-Verbot. Der vielfach propagierten und temporär auch anscheinend der Kommission vorschwebenden auswirkungsbasierten Betrachtung von Treuerabatten erteilt er eine in Bezug auf den bewerteten Sachverhalt unzweideutige Absage.
Gleichzeitig bleiben weiter bedeutende ungeklärte Fragen. Die Prioritätenmitteilung der Kommission zum Behinderungsmissbrauch aus dem Jahr 2008 war vorliegend, wie der EuGH aussagt, nicht einschlägig, da das Bußgeld 2006 verhängt worden war. Deshalb und weil es an entsprechenden Hinweisen mangelt, bleibt offen, wie der EuGH in Fällen entscheiden würde, bei denen es um Sanktionen im Anschluss an die Prioritätenmitteilung geht.
Die Frage, ob Treuerabatte nun in Zukunft daher weiter – soweit die Prioritätenmitteilung zieht – nach einem formbasierten oder doch einem wirkungsbasierten Ansatz zu beurteilen sind, wird aus meiner Sicht nicht hinlänglich sicher geklärt, wie überhaupt eine Einschätzung des EuGH zur Prioritätenmitteilung der Kommission weiter aussteht. Damit fehlt uns weiter für die aktuelle Praxis der rückwirkenden Rabattgewährung Rechtssicherheit.
Eine Prognose dazu ist schwer. Der Verfasser tendiert zur Ansicht, dass sehr gut beraten ist, wer Vorsicht an den Tag legt oder sich möglicher schmerzhafter Konsequenzen von Treuerabatten des marktbeherrschenden Unternehmens bewusst ist. Deshalb wird die jüngst EuGH-Entscheidung sicherlich für viele Player gerade im Vending – Bereich Anlass sein, über Rechtsbehelfe gegen Kundenbindungssysteme der Großen nachzudenken, hießen sie „Treuerabatt“, „Umsatzrabatt“ oder anders.

In Deutschland tätige Unternehmer müssen das deutsche Kartellrecht und auch das der EU beachten, wie alle in der EU wirkenden Unternehmen das der Gemeinschaft und das nationale, welches durch regionales Marktverhalten berührt wird. Verstöße gegen das EU-Kartellrecht werden von der Europäischen Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten verfolgt, Verstöße nur gegen das nationale Kartellrecht durch die nationalen Behörden. Der deutsche Gesetzgeber hat das deutsche Kartellrecht im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) geregelt. Es wurde durch die siebte GWB-Novelle im wünschenswerten Vereinfachungsinteresse weitgehend an die Regelungen des EU-Kartellrechts angeglichen. Mögliche wettbewerbsbeschränkende Handlungen werden immer dann auch nach europäischem Recht beurteilt, wenn sie geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu beeinträchtigen. An diese Eignung zur Beeinträchtigung des EU – Binnenmarkts werden regelmäßig nur geringe Anforderungen gestellt; kartellrechtlich relevantes Handeln berührt daher regelmäßig auch das Recht der EU. Vor allem das Verfahren vor den deutschen Kartellbehörden erfuhr im Jahr 2005 einschneidende Neuerungen. Mussten Unternehmen bis dahin wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen bei den Kartellbehörden anmelden und genehmigen lassen, ist es heute deren Pflicht, selbst zu überprüfen, ob ihr Markthandeln kartellrechtlich legal ist. Das ist im Einzelfall oft schwierig.